Voraussichtlich 35 Minuten später...Besuch in der Netzleitstelle..

Hier kommt alles rein was mit Modelleisenbahnen zu tun hat
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Chris
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Voraussichtlich 35 Minuten später...Besuch in der Netzleitstelle..

Beitrag von Chris »

Auch wenn es um "die grosse" geht.... denke ich hat das hier seinen Platz.

Voraussichtlich 35 Minuten später

In diesem Jahr ist jeder dritte Zug der deutschen Bahn unpünktlich gewesen. Wer hat Schuld? Zu Besuch in der Netzleitzentrale. Von Burkhard Straßmann

Eisenbahner?« Der Pförtner, Träger der knallroten Bahnkrawatte, wird merklich kühler, als der Gast bedauernd verneint. Man gehört eben nicht dazu.

Frankfurt-Gallusviertel, Pfarrer-Perabo-Platz 4. Ein Hochhaus mit verwegener Form. Kühles Ambiente. Hier residiert die Netzleitzentrale – das »Nervenzentrum des Eisenbahnverkehrs in Deutschland«, wie die Hausherrin DB Netz AG sagt. Ein moderner Betrieb ist das, in dem man den neuen Jargon der Kundenorientierung perfekt beherrscht. Dennoch und immer noch: Man spricht Eisenbahn. Hier werden »Anträge auf Anschlussgewährung« an die Transportleitung gerichtet, wo der »Letztentscheid« mit dem Ziel der »größtmöglichen Gesamtpünktlichkeit« zu fällen ist. An diesem Ort wird die für uns Reisende schlimmste aller Bahnkrankheiten, die Verspätung, verwaltet. Dokumentiert. Verschoben. Aufgeteilt und per Letztentscheid zugewiesen.

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Vielerorts glaubt man ja, dass die Bahn AG selbst den Anschluss verpasst hat. Manche nennen sie immer noch Bundes- oder Reichsbahn. Andere Schnarchladen oder unbewegliche Vorkriegsbehörde. Letzteres besonders in einer Periode der Unpünktlichkeit, die soeben zu Ende geht – so hofft man jedenfalls bei der Bahn. 2006 hat Zugfahren nicht unbedingt Spaß gemacht. Im September lag die Pünktlichkeit im Fernverkehr bei skandalösen 68 Prozent, das erfuhr Focus »aus Regierungskreisen«. Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte vor zwei Jahren 95 Prozent versprochen. Jeder dritte Zug war im Spätsommer zu spät. Schelte und Spott setzte es aus den Medien. Blogs mit Namen wie »Bahnfrust« oder »Bahnhasser« liefen heiß von den Beiträgen ausrastender Pendler. Ein Desaster. Doch woher kommt die Verspätung? Ist sie gottgegeben? Ist Mehdorn schuld? Das Wetter? Die Verspätungsverwalter in der Netzleitzentrale sollten das wissen.

Ihre korrekte Berufsbezeichnung: Disponent. Sie sitzen in einem dämmrigen, elektronisch gesicherten Großraumbüro. Als wollte man sich vom Lärm der Bahnhöfe absetzen, herrscht im Nervenzentrum des Schienenverkehrs eine beinah arrogante Stille. Oft hört man nur das Klicken der Computermäuse. Dann wird ein bisschen telefoniert. Man unterhält sich leise. Man starrt auf seinen Bildschirm. Nichts verrät, welche schicksalhaften Entscheidungen hier fallen.

Sabine Claus hat den Fernverkehr Mitte/West im Blick. Das heißt, sie schaut auf einen Monitor, der in hübschen Mustern feine bunte Linien und Zahlen zeigt. Sie deutet auf eine Linie, die zuerst rosa ist und plötzlich rot wird. Ein ICE hat den Frankfurter Flughafen mit plus sechs Minuten verlassen – Verspätung! Eine dünne grüne horizontale Linie markiert die aktuelle Zeit, darüber ist die Vergangenheit der Reise aufgetragen, unten die vom Programm prognostizierte Zukunft. Auf der waagerechten Achse liest man ab, dass der Zug mittlerweile kurz vor Mannheim ist. Am Flughafen kam er noch mit minus zwei Minuten an, also zu früh. Was ist passiert? Da gibt es allerhand Möglichkeiten. Ein zweiter Bildschirm liefert ständig kleine Meldungen wie »Krankmeldung TF«: Da ist ein Lokführer erkrankt. In diesem Fall handelt es sich aber nur um einen »Triebzugschaden«. Genauer: »Türstörung. Selbst behoben.«


© DIE ZEIT, 23.11.2006 Nr. 48

TEIL 2
24800 Züge täglich werden in diesem Büro im Sinne der größtmöglichen Gesamtpünktlichkeit gelenkt. Zusammen mit 25 weiteren Disponenten entscheidet Frau Claus über Fragen wie diese: Kriegen ein paar verschlafene Anschlussreisende noch ihren allerletzten Zug zurück ins Kaff? Zum Glück bedeuten die plus sechs Minuten des ICE aus Frankfurt keine Katastrophe. Er ist eben noch vor seinem Nachfolger ins viel befahrene Nadelöhr vor Mannheim gerutscht. »Zwei Minuten später, und ich hätte angefangen, mir Gedanken zu machen.« Was eine feine Umschreibung für ein womöglich folgenschweres Eingreifen ist. Wären sich die beiden Züge ins Gehege geraten, wäre entweder der eine mit noch mehr oder der andere mit frischer Verspätung bepackt worden. Vielleicht hätten sie eine Verspätungslawine ausgelöst.

Erstaunlich, dass man sich hier mit Verspätungen von wenigen Minuten aufhält; das sind nicht die, welche Fahrgäste empören. Doch, das sind sie, sagt Arvid Kämmerer. Der lang gediente Disponent ist heute für die Betriebsüberwachung bei der DB Netz zuständig, was ihn zum obersten Chaosmanager macht. Im Besprechungsraum der Netzleitzentrale eilt er zum Flipchart und bedeckt es in Windeseile mit bunten Strichen. »In Winsen an der Luhe steht ein Pferd auf den Gleisen«, so sein Szenario. Der ICE von Hamburg nach München stoppt und kommt mit voraussichtlich plus sieben Minuten in Hannover an. Zwanzig Leute sitzen im Zug, die würden gern noch den ICE von Berlin ins Ruhrgebiet erwischen. Soll der warten? Tut er das, verspäten sich seine 600 Passagiere und nehmen die Verspätung wahrscheinlich nach Dortmund mit, von wo aus sie sich strahlenförmig in Richtung Münster, Wuppertal und Essen ausbreitet.

Tausend Selbstmörder im Jahr, das sind zwei bis drei am Tag

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In der Netzleitzentrale spricht man von einem Verspätungsstrahl, auch wenn er sich eher verhält wie eine Welle. Er kann einen anderen überholen oder sogar zurückschwappen, sodass sich ein Zug wegen eines anderen in der Gegenrichtung verspätet. Das, so Kämmerer, sei der Nachteil des engmaschigen deutschen Netzes: »Zupft man in Flensburg, dann wackelt es in Passau.« Lauter Knoten bedeuten lauter potenzielle Konfliktherde. Wie viel leichter habe es da Frankreich, wo alle Gleise nach Paris zeigten und Querverbindungen kaum existierten. Kein Kunststück, dass die Bahn dort pünktlicher ist.

Also ist das Pferd in Winsen der Quell allen Übels? Das mag auch Arvid Kämmerer nicht behaupten. Er gibt zu: »Unser Motto ›Alle reden vom Wetter – wir nicht!‹ war ziemlich kess!« Gewitter gibt es und Sturm, Bäume stürzen auf den Fahrdraht, Feierabend. Jede Jahreszeit hat ihre Probleme. Anfang 2006 war es so kalt, dass der überfällige Gleisausbau nicht voranging, weil der Schotter festgefroren war. Dann kam die WM, da wurde, um die vielen Sonderzüge noch in den Plan quetschen zu können, fast gar nichts mehr repariert. Im Juli war es zu heiß zum Schweißen – die Gleise standen unter Spannung. Als dann endlich im August die Bauerei beginnen konnte, setzten die Verspätungen sein, gleich gefolgt von den typischen Herbstärgernissen: Feuchtigkeit ist in der Luft, Laub fällt auf Schienen. Das ergibt einen Schmierfilm. Die Eisenräder drehen durch, die Lok kommt nicht recht von der Stelle.


Andere Störungen kennt der Bahnkunde von den liebenswert bemühten Erklär-Durchsagen der Zugbegleiter: Lokschaden, Tiere im Gleis, Stellwerkschaden. Es gibt die »spielenden Kinder«. Und die schrecklichen tausend »Personenschäden« im Jahr, das sind täglich zwei bis drei Fälle. Für ein aktuelles Problem fehlen der Bahn noch die rechten Worte. Seit zwei Jahren existiert auch in Deutschland ein Dritte-Welt-Phänomen: Es werden Kupferkabel geklaut. Sie sind parallel zu den Gleisen verlegt und unbewacht. Wenn man sie durchzwickt, entsteht die wohlbekannte »Signalstörung«. Für die kann es aber auch andere Ursachen geben. Vielleicht ist das grüne Lämpchen eines Signals durchgebrannt, und kein Signal heißt für den Lokführer: Stopp!

Nun sind die wichtigsten Faktoren beisammen. Das komplexe Netz. Das Wetter. Diebe. Lebensmüde. Kinder. Und das Pferd in Winsen an der Luhe. Aus alldem folgt: Verspätung, unausweichlich. Und alles wäre noch viel schlimmer ohne das Konfliktmanagement der Netzleitzentrale. Oder etwa nicht? Es gibt einen Verdacht. Der Fahrplan selbst sei das Problem, mutmaßen Bahnkritiker seit vielen Jahren. Zu voll gestopft. Zu ambitioniert. Rüdiger Weiß ist der Mann, der für seine Arbeit seit 22 Jahren Prügel bezieht. Und trotzdem noch ein lustiger, quirliger Mensch ist. Er ist der »Leiter Fahrplan« der Netz AG und verantwortet jenes wohlgemeinte Konstrukt, das im Grunde immer schon am ersten Gültigkeitstag, dem zweiten Sonntag im Dezember, Makulatur ist.

Der Jahresfahrplan ist ein sehr ordentliches Gittermuster, mit dem man sein Büro tapezieren könnte. Jede Zugfahrt von A nach B und von x bis y Uhr ist eingetragen und zu dem gebündelt, was Fahrplanleute eine Trasse nennen. Über 47000 Trassen enthält allein der Netzfahrplan. »Dagegen ist Österreich pillepalle«, meint Weiß. Über Frankreich kann er nur lachen. Die Wünsche der Kunden, in erster Linie DB-Unternehmen des Fern-, Nah- und Güterverkehrs, aber mittlerweile auch über 320 private Konkurrenten, müssen abgestimmt werden, was eine Heidenarbeit und auch ziemlich heikel ist. »Wir bearbeiten in jedem Plan rund 10000 Trassenkonflikte«, sagt Mister Fahrplan.

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Knotenprobleme auch hier. Ein Trassenextrawunsch kann bedeuten, dass 100 Züge im Plan verschoben werden müssen. Der fertige Plan, eine Art Kursbuch, ist ein Wunder an Feinabstimmung. Sein Nachteil: Er ist Theorie. Die Wirklichkeit kommt in Form von rund einer Million ungeplanten Fahrten jährlich dazu. Mal legt in Hamburg zu unerwarteter Zeit ein Güterschiff an, das heißt mehrere Züge in Richtung Osteuropa. Mal blockiert bloß eine Einzellok das Gleis auf ihrem Weg in den Schuppen. Der tagesaktuelle Fahrplan ist ein dermaßen filigranes Werk, dass ihn schon eine klemmende Tür ins Wanken bringt.

Solche Störungen hätten weit weniger Konsequenzen, wäre der Fahrplan »robust« ausgelegt mit viel Puffer, um Verspätungen aufzuholen. Doch je engagierter Mister Fahrplan zur Sache geht, je dichter die Züge aufeinander folgen und je knapper die Bahnhofsaufenthalte geplant sind, desto anfälliger ist das System für Störungen. Warum prügelt er über die überlastete Kölner Rheinbrücke Züge noch und nöcher und schleust durchs Nadelöhr des Hamburger Hauptbahnhofs, was nur rechnerisch hindurchpasst?

Wie wäre es, wenn es überhaupt keinen Fahrplan mehr gäbe?

Seine Antwort ist dankenswert deutlich: »Zwei Seelen sind in meiner Brust. Ich konstruiere nicht nur Trassen. Ich bin auch Trassenverkäufer.« Und je dichter die Strecken belegt sind, desto mehr Trassen sind verkauft. Die Bahn auf dem Weg von einer Behörde zu einem kapitalistischen Unternehmen verhält sich entsprechend. Je rasanter Rüdiger Weiß den Fernverkehr durchs Netz hetzt, desto mehr freuen sich seine Kunden, die Eisenbahnverkehrsunternehmen. Denn was haben die von einem robusten Fahrplan – und die Leute nehmen das Flugzeug? Aber drei Stunden zehn Minuten von Frankfurt nach München nach dem neuen Fahrplan 2007, wodurch man wegen der Neubaustrecke zwischen Nürnberg und München eine halbe Stunde gewinnt – damit lässt sich werben.

Dazu kommt der Güterverkehr. Bilden wir uns ja nichts ein: Selbst die gehätschelten Passagiere der ersten Klasse sind letztlich nur ein Transportgut, das in Konkurrenz zu Eisenrohren, Autos und Kohle durchs Netz geschleust wird. Die Parallelwelt des Güterzugverkehrs mit ihren eigenen Gesetzen und exorbitanten Verspätungen benutzt in Deutschland dieselben Gleise wie Nah- und Fernverkehr. Nur eine einzige »artreine« Strecke gibt es: die neue rechtsrheinische ICE-Strecke Köln–Frankfurt. Ansonsten Mischverkehr. Gerade nachts prügeln die Disponenten Güterzüge durchs Netz, dass es knirscht.

Manchmal befallen Mister Fahrplan Zweifel, ob dieser Verkehr überhaupt zu bewältigen ist. In solchen Momenten erlaubt er sich eine Vision, die auf die Abschaffung seines eigenen Arbeitsplatzes hinausliefe. In der Stadt, bei der Straßen- und U-Bahn und beim Omnibus ist es üblich; und manche Bahnreisende praktizieren es an großen Knotenpunkten wie Köln oder Frankfurt heute schon: Sie reisen ohne Plan. Wie wäre es, wenn es überhaupt keinen Fahrplan mehr gäbe? Man schaute einfach auf die Anzeigetafel, wann der nächste Zug in die gewünschte Richtung fährt, und tränke vielleicht noch einen Kaffee. Kein Fahrplan, kein Versprechen, keine Verspätung, kein Bahnfrust. Das würde sehr viel Geld und noch mehr Nerven sparen. Free float heißt das bei Rüdiger Weiß. Aber ihm ist klar, das wäre nichts für seine Kunden: »Der Deutsche liebt Fahrpläne.« Selbst wenn sie nur zu 68 Prozent stimmen.

Lesen Sie auch das Interview mit Zugchef Joachim Hille über Fingerspitzengefühl im Umgang mit Reisenden »

© DIE ZEIT, 23.11.2006 Nr. 48

http://www.zeit.de/2006/48/Bahn-2?page=1
"Natur und ihr Gesetz sah man im Dunkel nicht, Gott sprach ,es werde Tesla, und überall ward Licht"
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Elt-Onkel
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Beitrag von Elt-Onkel »

Hallo,

ich bin z.Zt. etwas ungeduldig - habe gerade in den vergangenen
12 Stunden an 9 Stellen der Hochgeschwindigkeitsstrecke
Hannover-Göttingen die Beseitigung von Schienenfehlern durch
Auftragsschweißung beaufsichtigt.
Nun können die da wieder 250 km/h anstelle von 160 fahren.

Aber was ist der Sinn und der Inhalt des Startbeitrages ?

Was sollen uns die o.g. Zeilen sagen ?

Eine Zusammenfassung wäre gut.

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Chris
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Beitrag von Chris »

Der Blick dahinter.... das ist der Sinn.
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