Bestandsschutz

Hier geht es um allgemeine Normen der Elektrotechnik, Auslegungen und deren Anwendung
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Mackie Messer
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Bestandsschutz

Beitrag von Mackie Messer »

Stellen sich bei der Prüfung Anlagenteile als unsicher oder gar gefährlich dar, so wäre ein Berufen auf einen „Bestandsschutz“ nach dem Vorschriftenstand zum Errichtungszeitpunkt rechtsmissbräuchlich. Ansonsten könnte ein an dieser Anlage tödlich Verunfallter absurderweise als „rechtmäßig verstorben“ gelten. Auch ein Feuer könnte nach der Bestandsschutzargumentation durchaus rechtmäßig ausbrechen. Das heißt also, dass es einen „Bestandsschutz“ nur so lange gibt, wie die Anlage mit all ihren Teilen sicher ist.

Quelle: https://www.elektrofachkraft.de/pruefun ... z5pCo2Ar4Y
Wie seht ihr das?
Trumbaschl
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Re: Bestandsschutz

Beitrag von Trumbaschl »

Unsicher ist schon ein ziemlich starkes Wort - das wäre z.B. meiner Meinung nach ein Argument für die Stilllegung aller klassisch genullter Anlagen, da insbesondere im Hinblick auf jahrzehntealte Klemmverbindungen die Sicherheit von Personen nicht mehr zuverlässig gegeben ist. Bei "gefährlich" würde ich argumentieren, dass eine Anlage, die früher Normen entsprochen hat, wohl kaum so katastrophal sein kann. So extrem haben sich die Normen nicht verändert.
E-Jens
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Re: Bestandsschutz

Beitrag von E-Jens »

Hallo,

Ich lese es so, dass es darum geht, Anlagen die schon zum Zeitpunkt der Errichtung nicht normgerecht waren oder nicht im normgerechten Zustand gehalten wurden, nicht mit dem Deckmantel des Bestandsschutzes zu "legalisieren".
Gruß Jens
laut&hell
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Re: Bestandsschutz

Beitrag von laut&hell »

Hallo zusammen,

ich sehe das wie E-Jens, denn es ist ja so, dass auch klassisch genullte Steckdosen im intakten Zustand eine wirkungsvolle Schutzmaßnahme auch bei Gerätefehlern darstellen.

Grundsätzlich eben wie immer: Wenn ein Unfall geschieht, ist ein Fehler passiert. Heute geht man nur eben eher dazu über, für 1 ... x Fehler redundante Maßnahmen einzurichten, früher reichte teilweise 1 Fehler, um eine gefährliche Situation entstehen zu lassen.
Funker
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Re: Bestandsschutz

Beitrag von Funker »

Der Artikel ist ziemlich theoretisch, ohne konkretes Beispiel.

Die VDE 0105 -100 beschreibt unter 5.3.3.1 zum Ziel einer (Wiederholungs)prüfung daß der Nachweis erbracht werden soll,

dass eine elektrische Anlage den Sicherheitsvorschriften und den Errichtungsnormen entspricht;

das gilt sowohl für neue als auch bestehende Anlagen, Erweiterungen oder Instandsetzung

- dazu muß in geeigneten Zeitabständen geprüft werden und
- es sollen Mängel aufdeckt werden, die nach der Inbetriebnahme aufgetreten sind und den Betrieb behindern oder Gefährdungen hervorrufen
können.

Daraus ergibt sich, das praktische Ziel für den Prüfer innerhalb, des vertraglich vereinbarten Prüfrahmens (bei Wiederholungsprüfung) allgemein Prüfobjekt und Zeitlimit und nicht wie allgemein gedacht die Bestätigung der Sicherheit der Anlage (Außnahme Abnahmeprüfung bei Erstprüfung)
möglichst eine ausreichende Anzahl Prüfschritte durchzuführen und dabei keine Fehler festzustellen, was juristisch gegebenenfalls gefährlich wäre.
Im Schadenfalle wird es dann schwer nachzuweisen, daß ausreichend geprüft wurde.
Das gelingt dann nur wenn jeder auch positiver Prüfschritt ausreichend dokumentiert wurde, z.B. 100 Auslösungen von RCD je 8 h Arbeitstag.
Besser für den Prüfer ist es jedoch neben einer Anzahl positiver Prüfergebnisse eine ausreichende Anzahl Mängel festzustellen, diese z.B. durch Normenverweis oder Gefährdungsbeurteilung zu begründen und entsprechende Fristen zur Beseitigung zu setzen, gegebenenfalls mit einer zeitweiligen Auflage zu kompensierenden weiteren Sicherheitsmaßnahmen.

Damit liegt dann die Erfüllung der Forderung z.B. der Arbeitsstättenverordnung, daß Arbeitsstätten und die darin betriebenen elektrischen Anlagen sicher sein müssen wieder beim Betreiber.
Der muß dann nach Mängelbearbeitung den Prüfer oder einen anderen Prüfer wieder kommen lassen. Da diese in der Prüfreihenfolge frei ist
kann dieser bei jedem Prüfvorgang andere Schwerpunkte setzen, so daß einerseits im Verlaufe mehrere Abfolgen von Prüfungen dann eine nahezu
vollständige Abdeckung erreicht wird, andererseits aber meist immer wieder neue andere Mängel auftreten können.

Bei mir bekommt jeder Prüfschritt oder Meßwert eine für den Betreiber verständliche Übersetzung i.O. "ja" oder "nein" mit folgender
Erklärung
*(1) i.O. ja = Betrieb zulässig / Beseitigung von Abweichungen empfohlen,
nein = Betrieb zulässig, außer bei Verbot / Mangel beheben

Beispiel: 1. Bei einer Prüfung aus Gründen des Brandschutzes wird in einem Stromkreis mit FU 40 kW ein Ableitstrom von 120 mA festgestellt,
durchaus bei Dreileiterfilter gegen PE üblicher Wert,
da normativ da vieles im Dunkeln liegt, zulässig wären z.B. bei Anwendung des Kriteriums 1 mA / 1 A Last nur etwa die Hälfte,
RCD 300 mA würde noch nicht auslösen, damit Brandschutz zum Zeitpunkt der Prüfung erfüllt,
aber bei Summierung bei mehreren FU eine eindeutige Aussage zum Brandschutz nicht mehr möglich, da Isolationsfehler durch die
Ableitströme der FU überdeckt werden,
Einstufung i.O. ja Empfehlung gegebenenfalls durch Änderung der Taktfrequenz der FU, Außerbetriebsetzung des Dreileiterfilters und
Ersatz durch angepaßtes Vierleiterfilter Ableitstrom auf unter 60 mA senken.
2. In einem Endstromkreis Beleuchtung wird ein Ableitstrom von 80 mA festgestellt. Alle Leuchten sind an, erfahrungsgemäß
Erdschluß N gegen PE an einem Vorschaltgerät. Einstufung i.O. nein Auflage Fehler im Stromkreis suche oder durch Riso Messung des
Stromkreises "Sicherheit" trotz des Ableitstromes nachweisen.
Probator
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Registriert: Montag 19. September 2016, 15:15

Re: Bestandsschutz

Beitrag von Probator »

Trumbaschl hat geschrieben: Dienstag 28. Mai 2019, 13:03 das wäre z.B. meiner Meinung nach ein Argument für die Stilllegung aller klassisch genullter Anlagen, da insbesondere im Hinblick auf jahrzehntealte Klemmverbindungen die Sicherheit von Personen nicht mehr zuverlässig gegeben ist.
Aber genau deshalb führen wir ja Prüfungen durch - um exakt solche Probleme aufzudecken.

Natürlich ist klassische Nullung nicht mehr Stand der Technik. Aber sie war normativ damals erlaubt und sofern die Anlage noch "in Ordnung" ist, geht von ihr auch keine Lebensgefahr aus.
Sichtprüfung, Handprobe und Schleifenimpedanzmessung sind die Mittel, um z.B. jene gefährlichen, losen Klemmenverbindungen aufzuspüren. Ein erfahrener Prüfer wird natürlich gerade bei der klassischen Nullung besonders sorgfältig auf sowas schauen. In der freien Wildbahn sind noch immer Anlagen anzutreffen, bei denen keinerlei Schutzleiter angeschlossen ist 8o , obwohl das Prinzip des "nichtleitenden Raumes" schon lange nicht mehr zutrifft, z.B. durch Einbau einer Heizung schon vor Jahrzehnten.

Stellt sich bei der Wiederholungsprüfung heraus, dass es schon bei wenigen den Stichproben zu Auffälligkeiten gekommen ist, wird man dem Auftraggeber natürlich raten, seine Anlage komplett erneuern zu lassen oder wenigstens eine 100% Prüfung durchzuführen.

Was passiert, wenn der Auftraggeber dieses ablehnt - das ist Kernaussage des verlinkten Artikels.

Kurz:
Wenn ich mit meinem Kunden z.B. nur eine 10%-Prüfung ausgemacht habe und stelle dabei schon gravierende Mängel fest - was passiert dann?
Habe ich vorher nur mit 1 Tag Arbeit gerechnet und es stellt sich raus, dass die Anlage so verpfuscht ist, dass man gut und gerne noch 2 Wochen weiterprüfen könnte, dann muss das ja irgendwer bezahlen - vom Elektroprüfer kann keine "ehrenamtliche" Arbeit gefordert werden.
Ist der Kunde also nicht bereit, eine vollständige Prüfung zu bezahlen, dann schreibt man seinen Mängelbericht über den Umfang, der vertraglich ausgemacht war und hat damit seinen Vertrag erfüllt. Der Kunde wird nachdrücklich über die Mängel in Kenntnis gesetzt und darf dann selbst entscheiden.

Bei tatsächlich lebensgefährlichen Anlagen in Kombination mit uneinsichtigen Betreibern wird der verantwortliche Prüfer natürlich nicht einfach vom Hof jagen lassen, ohne weitere Maßnahmen zu ergreifen. Ich denke da an Stichworte wie Netzbetreiber, Berufsgenossenschaft, Gewerbeaufsichtsamt oder gar Polizei.
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